Sie stellen sich das sicher ganz einfach vor, verehrte Leser: eine Brücke, die Adenauerbrücke in Ulm, 1954 erbaut und täglich von 96.000 Fahrzeuge frequentiert, ist nach sechzig Jahren heruntergekommen. Sie weist nicht nur gravierende Schäden auf, auch an der Zuverlässigkeit der Statik bestehen gutachterlich geäußerte Zweifel.
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Da gibt es nicht viel zu überlegen, denken Sie: Sofort Pläne für den Abriss und den Bau einer neuen Brücke ausarbeiten und sich dann rasch an die Ausführung eines Neubaus machen. Tja, das mag anderswo so ablaufen, in Ulm nicht. Hier gehen die Uhren anders und vor allem tickt unser Baubürgermeister Alexander Wetzig anders.
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Herr Wetzig ist nämlich Feingeist. Er befasst sich ungern mit Trivialem. Die Erneuerung von Brücken, die Sanierung von Straßen und Baudenkmälern interessiert ihn nicht. Herr Wetzig ist Fachmann für Ästhetik, Spezialist für moderne Architektur, weltweit anerkannte Kapazität auf dem Gebiet der Errichtung schachtelartiger Stahlbetonbauten, wie sie die Ulmer Mitte zieren.
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Deshalb kann es in Ulm schon einmal passieren, dass es zu Problemen kommt, von denen nur unser Baubürgermeister Wetzig überrascht wird, sonst keiner:
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Jahrelang zerbröselte der Ulmer Bahnhofsteg, die Hauptverbindung für Fußgänger über die Bahngleise zwischen Innenstadt und Dichterviertel. Unser Baubürgermeister bemerkte nichts und unternahm nichts. Es kam so, wie es kommen musste: der Steg wurde baufällig, von einem Tag auf den anderen musste er gesperrt werden. Bis ein neuer gebaut war, vergingen Jahre. Die Fußgänger nahmen den Umweg, den sie nun täglich (oft mehrmals) gehen mussten, ihrem stets ohne jeden Selbstzweifel auftretenden Baubürgermeister zuliebe gerne in Kauf.
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Die durchs Ulmer Stadtgebiet führende B 10 führt durch zwei 1963 errichtete Tunnel. Bauschäden und mangelnde Verkehrssicherheit machten 2006 eine Sanierung der 385 Meter langen Oströhre dringend erforderlich; die 501 Meter lange Weströhre sollte später folgen.
Bald schon wurde deutlich, dass Baubürgermeister Wetzig mit dieser Aufgabe überfordert war: der Zeitplan konnte nicht eingehalten werden, Staus nahmen beständig zu, die Kostenplanung geriet aus den Fugen und die IHK machte Wetzig für Umsatzeinbußen des Handels verantwortlich.
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Schließlich beendeten der Präsident der IHK Peter Kulitz und der Geschäftsführer Otto Sälzle das hilflose Agieren Alexander Wetzigs auf ungewöhnliche Weise: mit einem Scheck von 200.000 Euro erschienen sie auf dem Ulmer Rathaus und verlangten, ein externes Planungsbüro mit der Projektsteuerung der B 10-Röhren-Sanierung zu beauftragen.
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Manchmal ist man sprachlos, wie Demokratie in Ulm praktiziert wird. Der IHK-Coup funktionierte: ein Hauptabteilungsleiter in der Ulmer Bauverwaltung verlor seinen Führungsposten, ein Abteilungsleiter quittierte frustriert den Dienst, ein externes Planungsbüro erledigte die Aufgaben der Ulmer Bauverwaltung. Im November 2013 wurde die Sanierung abgeschlossen; 25 Millionen Euro hat sie gekostet; Herr Wetzig hatte 2010 noch mit Kosten unter 10 Millionen gerechnet.
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Als vor wenigen Tagen nach siebenjähriger Sanierung ein nächtliches Tunnelfest gefeiert wurde, steckte sich der Ulmer Baubürgermeister eine kubanische Zigarre an (hat er die von Herrn Sälze bekommen?), blies den Rauch in die Luft und sagte, dass es Ärger ohne Ende gegeben, die Zusammenarbeit mit der IHK aber bestens geklappt habe.
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Doch Herr Wetzig lernt aus Erfahrungen.
Die jetzt zum Sanierungsfall gewordene Adenauerbrücke überspannt die Donau und gehört somit zur Hälfte zu Neu-Ulm (Bayern), zur anderen Hälfte zu Ulm (Baden-Württemberg). Eingedenk seiner schlechten Erfahrungen mit dem Bahnhofsteg übertrug Ulms Baubürgermeister die Planung für die Sanierung der Adenauerbrücke dem Staatlichen Planungsamt in Krumbach.
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Dort untersuchte man die Sachlage und kam zu folgendem Resultat: eine dringend nötige Sanierung der Brücke lohnt sich nicht mehr. Es kommt nur ein Neubau in Frage. Da das Verkehrsaufkommen seit der letzten Zählung 2010 zugenommen hat, ist eine Vergrößerung der Brücke von sechs auf acht Spuren nötig. Die Kosten für eine neue Brücke betragen 15-16 Millionen Euro. Wenn die Planungen jetzt anlaufen, kann 2018 mit dem Neubau begonnen werden. Wer die Verbreiterung der Adenauerbrücke nicht will, muss angesichts des erhöhten Verkehrsaufkommens eine weitere Donaubrücke am Ostrand der Stadt Ulm in Betracht ziehen.
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Wie jeder Ulmer erfuhr unser Baubürgermeister Wetzig von diesen Plänen und Vorschlägen des Bauamtes Krumbach aus der Presse. Und jetzt stellen Sie sich vor, verehrter Leser: Herr Wetzig war empört! Außer sich. „Das ist ein Affront!“ rief er laut aus. „Respektlos“ verfahre das Amt in Krumbach mit ihm. Er werde sich das nicht bieten lassen.
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Ja, sehen Sie Herr Wetzig, so geht es den Ulmern seit Jahr und Tag. Sie hätten gerne rechtzeitig und umfassend erfahren, was die Bauverwaltung plant, zum Beispiel bei der Einkaufsgalerie am Sedelhof. Doch die Bauverwaltung unter Ihrer Führung treibt meist das gleiche Spielchen: in der Verwaltung werden heimlich Pläne ausgearbeitet, sodann das Projekt auf den Weg gebracht. Wenn alles unabänderlich ist, werden die Bürger informiert, dürfen ihre Meinung sagen und Sie, Herr Wetzig, sorgen dann noch für eine gehörige Portion Zynismus, indem sie davon sprechen, dass in Ulm die Bürger auf vorbildliche Weise an politischen Entscheidungen beteiligt würden.
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Die Krumbacher Bauverwaltung hat einen Fehler gemacht. Sie hat keine schlechte Analysen und Pläne vorgelegt oder Unmögliches zur Diskussion gestellt. Nein. Sie hat unseren Herrn Baubürgermeister Wetzig in seiner Eitelkeit verletzt. Das war ein folgenreicher Fauxpas. Jetzt wird es vermutlich soweit kommen, dass die Adenauerbrücke irgendwann in den kommenden Jahren wegen mangelhafter Verkehrssicherheit ganz oder teilweise gesperrt werden wird, da kein Neubau beschlossen werden kann. Denn mit restriktivem Verhalten der Ulmer Bauverwaltung und der ebenfalls in ihrer Eitelkeit verletzten Ulmer Gemeinderäte sollten die Krumbacher Planer nun auf alle Fälle rechnen.
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