Leo und der Siddibahnhof

Als das Internetforum der Stadt Ulm eröffnet wurde, auf dem interessierte Bürger über die Gestaltung eines neuen Hauptbahnhofes diskutieren können, war Quasselstrippe, der Wirt vom DF, begeistert. Endlich nahm die Stadtverwaltung die Bürger ernst, endlich sollten sie mitreden dürfen.

War das der Beginn einer neuen Ära der Demokratie? Hatte Ivo Gönner, SPD, (bei Stuttgart 21 rigoros gegen jede Bürgerbeteiligung) sich zufällig an Willy Brandts alte Forderung „Mehr Demokratie wagen“ erinnert?

Der Wirt registrierte sich umgehend beim Forum und schrieb einen Brief an den Stammtischbruder Leo.

Große Arbeitsbelastung hatte diesen, der im DF(wegen seiner Kompromisslosigkeit) den Spitznamen Trotzki trägt, einige Zeit vom Besuch am Stammtisch abgehalten. Quasselstrippe forderte ihn schriftlich auf, es als Schwabenpflicht zu sehen, am Diskussionsforum Siddibahnhof Ulm teilzunehmen (haben wir eigentlich keine treffenden deutschen Ausdrücke mehr, die auch unser nicht Englisch sprechender Oberbürgermeister versteht?)

Die Antwort Leos war deprimierend. Aber lesen Sie selbst:

Werter Herr Wirt,

Sie finden mich völlig unvorbereitet zum Thema. Eigentlich bin ich jeglicher Bahnhofsdiskussionen im engeren und weiteren Sinne überdrüssig, weil völlig übersättigt. Aber ich möchte Ihnen trotzdem – improvisiert und aus dem Bauch heraus – antworten.

Zuerst: Was ist schon ein Bahnhof? Da kommen Züge an und fahren ab, und Menschen steigen ein und aus. Damit hat sich’s. Und wenn das Zugfahren noch so teuer, umständlich und unangenehm ist wie mit der Bundesbahn, was braucht es da noch großartige Bahnhöfe?

Und wenn ich an einer pseudopartizipatorischen Diskussion teilnehmen soll, die nicht nur nach dem panischen Versuch riecht, sondern geradezu danach stinkt, alles was auch nur im Entferntesten mit den Ereignissen um Stuttgart 21 zu tun hat, zu verhindern, indem die Menschen sich in völlig nutzlosen Internetforen zu Tode quatschen sollen, während die „Entscheidungsträger“ und „Macher“ sich insgeheim ins Fäustchen lachen, dann, ja was dann?

Dann wird mir wieder einmal klar, dass es eigentlich nur noch darum geht, einigermaßen ungeschoren davonzukommen. Unbehelligt von allen Diskussionen, in denen die Worte vorkommen:

„city“,
„urban“,
„Erlebnisräume“,
„Platzräume“
„Vernetzung“,
„Identifikationspunkt“,
„Juwel“ (!),
„Jahrhundertchance“ (!),
„Impulsgeber“,
„Brückenschlag“,
„Stadtquartier“,
„Machbarkeitsstudie“,
„städtebauliche Herausforderung“,
„Freiraumnetz“ (besonders dämlich),
„solitäre Gesamtskulptur“ (King Kong?),
„zeichenhafter Solitär“ (noch um 1 Stufe blöder),
„Freiraumkorridore“ (Einer flog über das Kuckucksnest?),
„qualitätsvolle Stadträume“ (hä?)
„Wegebeziehungen mit Dominanten“
„Kiss & Ride-Stellplätze“ (ist das ein Druckfehler?),
„Landschaftstreppe“ (Au weia),
„kraftvolle Stadtkante“,
„Campus-Platz“,
„überformte Blockstrukturen“
usw.
usf.
oh je …

Und dann melden sich da Horst Kächele und Emma Scheiffele, die sich ja auch längst einen Computer gekauft haben und in „dem Inderned“ zugange sind, welche heute natürlich die Nicknames Cityhopper57″ oder „Urban Guerilla“ tragen, und äußern sich in den Ihnen gegeben „Freiräumen“ zum Thema (was immer das auch sein mag).

Und machen Vorschläge:

Bahnhofsuhr als rotierender Würfel, solarstrombetrieben
Bus oben oder unten,
Blau renaturiert oder als Aquädukt,
Fahrradbrücke,
Bushaltestelle ca. 20 cm weiter vorne oder hinten oder womöglich gar nicht,
Inlineskaterrampe im Bahnhofsshoppingbereich,
Cityökosupermarkt,
„Kinderlounge“ (kotz!).

Und dann kommen noch die reaktionären Stinker, die endlich mal keine Punks mehr auf dem Bahnhofsvorplatz haben wollen, sondern wieder „Normale“.

Und alle halten sich für Sachverständige,
Oder Bürger,
Oder womöglich beides (noch schlimmer, weil komplett falsch).

Und reden natürlich mit (nur: mit wem?).
Als ob sie an ihrer Modelleisenbahn arbeiten würden.
Als ob jemand anders als ihresgleichen zuhören würde.

Sie sehen also, lieber Wirt, dass ich wohl nicht der Richtige bin. Ich will eigentlich eher nur mehr unbehelligt bleiben.

Von all denen.
Und all dem.
Hätte mich früher natürlich empört, eine solche Haltung.
Ist aber schon lange her.
Kann mich kaum mehr erinnern.

Herzlichst Ihr Leo

11.7.2011

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Citybahnhof Ulm – ein Partizipationsmodell?

Die Ulmer Bauverwaltung möchte den Bürgern einen neuen Hauptbahnhof schenken. Pardon. Einen C i t y b a h n h o f. Aber damit nicht genug: Ein ganzes Areal – so groß wie ein Dutzend Fußballfelder – soll neu gestaltet und bebaut werden. Die gewählten Volksvertreter haben sich Gedanken gemacht Die Bauverwaltung hat sich Gedanken gemacht. Und natürlich hat sich auch der Chef der Bauverwaltung Alexander Wetzig Gedanken gemacht.

Danach fand ein Architektenwettbewerb statt, 27 Architektenbüros nahmen daran teil, neun Entwürfe wurden von einer Jury ausgewählt.

Die vorgegebene Aufgabenstellung an die Architekten war bereits so restriktiv, dass wesentliche Fragen, z.B. das Weiterbestehen einer von täglich 30.000 Autos befahrenen Straße direkt vor dem neuen Hauptbahnhof, schon beantwortet waren noch ehe die Architekten sich überhaupt an die Arbeit machten.

Dabei wäre die Verlegung dieser stark befahrenen Straße in einen unterirdischen Tunnel etwas, was allen Reisenden, Spaziergängern, Einkaufsbummlern, Radfahrern am meisten nutzen würde, da sie problemlos ebenerdig und zügig von Bussen und Bahnen zum neuen Hauptbahnhof oder zum Stadtzentrum gehen könnten.

Daneben ist es mehr als fraglich, ob eine Stadt, die so hoch verschuldet ist wie Ulm (2009 betrug die Schuldenlast 127.876.000 Euro) überhaupt in absehbarer Zeit in der Lage sein wird, ein so teures Großprojekt zu finanzieren.

Wenn die Gemeinderäte nicht nur leeres und unverantwortliches Gerede pflegen, sondern es ernst meinen mit dem Abbau der Verschuldung öffentlicher Kassen und der Verantwortung vor kommenden Generationen, ist an ein Projekt von der Größenordnung des neuen Ulmer Hauptbahnhofes nicht zu denken.

Nach Auswahl und Platzierung von neun Entwürfen hat nun der Bürger das Wort.

100 Bürger trafen sich vergangenen Donnerstag im Stadthaus und wurden dort von unserem Baubürgermeister persönlich informiert. 121.987 Bürger hatten offenbar kein Interesse oder keine Zeit, diese Veranstaltung zu besuchen.

In einem von der Stadt Ulm in Auftrag gegebenen und von einem Münchener Kommunikationsbüro organisierten und betreuten Internetforum können nun Vorschläge, Kommentare und Meinungen ins Netz gestellt werden.

40.000 Euro lässt sich das die Bauverwaltung kosten. Nützlich angelegtes Geld, um die demokratische Partizipation zu stärken, oder Alibiveranstaltung, um sich zusätzlich Legitimation zu kaufen?

Zum Ulmer Diskussionsforum: http://www.citybahnhof.ulm.de/

Der DF wird Sie weiter auf dem Laufenden halten. Schon bald werden Sie erfahren, was unser Stammtischbruder Leo in einem Brief an Quasselstrippe zu diesem städtischen Forum zu sagen hat.

10.7.2011