Seit Wochen demonstrieren Gegner der Tieferlegung des Hauptbahnhofes in der Landeshauptstadt Stuttgart. Ausnahmslos friedlich verliefen diese Demonstrationen, an denen oft Zehntausende teilnahmen. Die Menschen, die ihr grundgesetzlich verbürgtes Demonstrationsrecht wahrnehmen, kommen aus allen Schichten der Bevölkerung und aus allen Altersgruppen.
Was treibt ausgerechnet die biederen eher konservativen Schwaben auf die Straße? Der Schriftsteller Wolfgang Schorlau, der in Stuttgart lebt und sich an den Bürgerprotesten beteiligt, antwortete auf diese Frage im Berliner Tagesspiegel: „Die Schwaben haben ihre Freiheitshelden Friedrich Schiller und Ludwig Uhland. Es gibt hier … einen tief verwurzelten Freiheits- und Gerechtigkeitssinn. Der wurde besonders bei dem klassischen Bildungsbürgertum durch die ganzen Lügen, Tricksereien und widersprüchlichen Gutachten tief verletzt.“
Am letzten Septembertag versammeln sich wieder Demonstranten. Im Stuttgarter Schlosspark sind Parkschützer, ältere Bürger und viele Schüler, die ihre Demonstration ordnungsgemäß angemeldet haben. Hundertschaften der Polizei aus mehreren Bundesländern wurden zusammengezogen und nach Stuttgart gebracht. In der Nacht auf den 1. Oktober sollen im Rahmen des Bahngroßprojektes uralte Bäume im Schlosspark gefällt werden. Ministerpräsident Mappus, Innenminister Rech und Stuttgarts Polizeipräsident Siegfried Stumpf wollen den Park räumen lassen, um die Fällarbeiten gegen den Willen der Stuttgarter Bevölkerung durchführen zu lassen.
In den folgenden Stunden spielen sich im Stuttgarter Schlosspark fürchterliche Szenen ab. Spezialeinheiten der Polizei prügeln mit Schlagstöcken, sprühen mit Pfefferspray, treten und schlagen, Wasserwerfer werden eingesetzt, das erste Mal seit 40 Jahren. Am Ende gibt es zwischen zwei – und dreihundert Verletzte, Kinder Jugendliche, alte Menschen, darunter kein einziger Polizist.
Die meisten Menschen haben Augenverletzungen durch die von der Polizei eingesetzten Chemikalien, Nasenbrüche, ein Mann wird von einem Wasserstrahl aus einem Polizeifahrzeug sehr schwer am Auge verletzt. Hinterher erklärt der Innenminister Baden-Württembergs, die Gewalt sei von Demonstranten ausgegangen. Sie hätten mit Pflastersteinen geworfen. Schon wenige Stunden später muss Rech seine dreiste Lüge, mit der er versuchte, die Demonstranten zu verunglimpfen und als Krawallmacher zu denunzieren, offiziell zurücknehmen.
Alle Lügen, die die Stuttgarter CDU-Regierung über die Gewalt von Demonstranten verbreitet hat, um ihnen die Schuld für die Ereignisse in die Schuhe zu schieben, musste sie zurücknehmen. Schüler haben sich auf ein Polizeifahrzeug gesetzt und der Aufforderung, es zu verlassen, nicht Folge geleistet. Menschen haben sich vor Wasserwerfer gesetzt und die polizeilichen Aufforderungen wegzugehen, ignoriert.
Das nennt man zivilen Ungehorsam. Dieser rechtfertigt nicht im mindesten einen brutalen Polizeieinsatz wie er am Donnerstag, den 30.9.2010 in Stuttgart stattfand. In einer Demokratie ist der Staat im Gegensatz zu einer Diktatur beim Einsatz der Polizei an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Dieser Grundsatz wurde ohne Frage gravierend verletzt.
Darüber, was sich in Stuttgart abgespielt hat, kann und konnte sich jeder aus den Medien (Tageszeitungen, Fernsehen, Internet) bereits am 1.10. ein umfassendes und objektives Bild machen. Wer dies leugnet oder behauptet, aus der Entfernung von 100 Kilometern ließen sich die Stuttgarter Gewalttaten nicht beurteilen, führt Unredliches im Schilde.
Der Ulmer OB Ivo Gönner (SPD) nahm in der Samstagausgabe der SWP Ulm Stellung zu den Stuttgarter Ereignissen:
„Betrüblich“ sei die Eskalation, „sehr bedauern“ würde er sie und hoffen, dass sich nun „alle besinnen“. Friedlich demonstrieren dürfe man zwar, aber Baurecht müsse vollzogen werden, meinte der Sozialdemokrat. Auf die Frage, ob die Polizei zu hart vorgegangen sei, fiel Herrn Gönner nur ein: „Das ist aus der Ferne nicht zu beurteilen“.
Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten, Herr Gönner: Offensichtlich sind die Politik und die politische Klasse in einer Glaubwürdigkeitskrise. Wenn Sie aus taktischen Gründen den Unwissenden und um Objektivität Bemühten spielen wollen, tragen auch Sie dazu bei, den Glaubwürdigkeitsverlust bei der Bevölkerung zu vergrößern.
Wenn Unrecht geschieht und eine Landesregierung die Demokratie untergräbt, sollten Sie sich, Herr Gönner, nicht dafür hergeben, den Komplizen zu spielen, nur weil Sie glauben, Ulm würde keine neue Schnellbahntrasse bekommen. Wozu andauernde und überzogene Taktiererei führt, sehen Sie in Stuttgart. Ihr Kollege Wolfgang Schuster hat bei „seiner“ Bevölkerung jedes Vertrauen verloren. Wollen Sie es in Ulm auch so weit kommen lassen?
Und noch eines: Die SPD-Fraktionsvorsitzende Frau Dorothee Kühne und der SPD-Abgeordnete Martin Rivoir sollten möglich schnell erklären, ob sie die Stuttgarter Polizeieinsätze und den dabei angewandten „unmittelbaren Zwang“ befürworten. Schließlich wollen alle Ulmer wissen, woran sie mit ihren Ulmer Politikern sind, zumal mit solchen, die sich in der Nachfolge Willy Brandts wähnen, der mit der Unterstützung von Millionen von Deutschen Anfang der siebziger Jahre „mehr Demokratie wagen“ wollte.
Willy Brandt würde sicher, lebte er heute in Ulm, analog zu „Ulm gegen rechts“ die Initiative „Ulm gegen Gewalt“ ins Leben rufen und verlangen, dass der Ulmer Oberbürgermeister deren Schirmherr wird.
3.10.2010