
Neu-Ulm ist die hässlichste Stadt der Welt.
Daran besteht unter Einheimischen und Gästen kein Zweifel. Dass die bayrische Landesregierung bisher davon absah, den Komplettabriss Neu-Ulms anzuordnen, verdankt die Stadt einem einzigartigen Baudenkmal in ihrem Zentrum – St. Johann Baptist, einem Bauwerk, das von Dominikus Böhm von einer neoromanischen zur expressionistischen Kirche umgestaltet wurde.
Kein Mensch weiß, was den Stadtverein „Wir in Neu-Ulm“ für ein Teufel geritten hat – war es Denkfaulheit, Aktionismus oder gar Masochismus – jedenfalls lud dieser Verein einen Experten für Standortmarketing ein und beauftragte ihn, die Stadt genauer unter die Lupe zu nehmen. Unter uns gesagt, gleicht dieser Hilferuf des Stadtvereins an den Marketingexperten doch sehr dem Verhalten Angehöriger eines Verstorbenen, die in ihrer Verzweiflung den Arzt ans Totenbett rufen und ihn bitten, den Verblichenen wieder zum Leben zu erwecken.
Der Experte Professor Doderer, Inhaber einer Kommunikationsagentur und Lehrbeauftragter an der Hochschule Furtwangen kam. Statt die Karten auf den Tisch zu legen und ehrlich zu bekennen, dass er nicht über göttliche Fähigkeiten verfüge, verbreitete er Zuversicht und versprach den Herren vom Stadtverein Vorschläge, wie Neu-Ulm in eine „Wohlfühlstadt“ umgewandelt werden könne.
Zwei Stunden spazierte der Professor sieben Mal vom einen Ende Neu-Ulms ans andere und wieder zurück. Zwei Minuten hatten ihm gereicht, um zu sehen, was mit dieser Stadt los ist. Die restlichen 118 Minuten trieben ihn zwei Fragen um: Was sag ich bloß den Herren vom Stadtverein und wie sag ich es ihnen? Offensichtlich wirkte die triste Augsburger Straße anregend auf den Professor, der nach seiner Rückkehr von der Stadterkundung zum Vorsitzenden des Stadtvereins „Wir in Neu-Ulm“ sagte:
„Ich habe sehr viele Beobachtungen gemacht und diese kurz protokolliert. Nun werde ich nach Furtwangen zurückkehren und meine Notizen zu einem Gutachten ausarbeiten. Bitten Sie doch alle wichtigen Leute Neu-Ulms am 15.Juni ins Edwin-Scharff-Haus. Ich werde dann coram publico die wichtigsten Ergebnisse meiner Untersuchung referieren.“
So geschah es. Im Beisein aller Vorstandsmitglieder des Stadtvereins, in Anwesenheit von sieben Stadträten, zwei Gastronomen, eines Immobilienmaklers und drei Vereinsvorsitzenden fasste Professor Doderer am Abend des 15. Juni die „Essentiellen Resultate seiner empirischen Beobachtungen und Datenerhebung zum Zustand der Bayrischen Stadt Neu-Ulm im Jahr 2013“ zusammen:
der Asphalt ist sanierungsbedürftig, das Ortsschild zu klein, Verbotsschilder gibt es zu viele, Bänke und Papierkörbe zu wenig, der Schriftzug am Bürgerbüro ist hässlich, gleiches gilt für die Schaufenster, während an Bordsteinen Moos und Gras wachsen, sprießt sonst zu wenig Grün in der Stadt.
Fazit: Fehlendes ästhetisches Bewusstsein sowie fehlende Erlebbarkeit der Wasserfront (Donau) sind zu konstatieren. Ein „Masterplan 2025“ muss aufgestellt werden. Hauptinhalt sollte ein Begrünungskonzept sein, mehr „Aufenthaltsqualität“ ist zu schaffen.
Nach diesem Vortrag waren die Zuhörer froh: So eine messerscharfe Analyse, so klar formulierte Vorschläge hatten sie nicht erwartet. Andererseits waren die Anwesenden auch erleichtert: Mit keinem Wort hatte der Marketingexperte erwähnt, dass Neu-Ulm die hässlichste Stadt der Welt ist. Das machte Hoffnung.
So nahm schon einen Tag nach der Abreise Professor Doderers das Unheil seinen Lauf.
Ein Ladenbesitzer, Mitglied im Vereinsvorstand „Wir in Neu-Ulm“ stellte einen Blumenkübel vor seine Tür, um auf diese Weise einen Beitrag zur Stadtbegrünung zu leisten. Der städtische Bedienstete Stephan Endres nahm dies zum Anlass, um auf die „Satzung für straßenrechtliche Sondernutzung“ hinzuweisen, die es der Stadt Neu-Ulm ermögliche, für das Aufstellen eines Pflanzenkübels eine Jahresgebühr von 80 € zu verlangen. Daraufhin drohte der bekannteste Kulturschaffende Neu-Ulms, der zugleich Vorsitzender des Stadtvereins „Wir in Neu-Ulm“ ist, mit seinem Rücktritt, falls die Stadtverwaltung die Sondernutzungsgebühr in Höhe von 80 € nicht abschaffen sollte. Jetzt war es Zeit, dass sich der CSU-Oberbürgermeister Gerold Noerenberg einschaltete. Er tat es mit der Erklärung, dass diese Sondernutzungsgebühr doch noch nie erhoben worden sei…
Ehe wir uns versahen, war in der Stadt Neu-Ulm ein Krieg ausgebrochen, zu dem es nie gekommen wäre, wenn sich die Beteiligten rechtzeitig daran erinnert hätten, was sie doch alle schon lange wissen:
Neu-Ulm ist die hässlichste Stadt der Welt.


/ 14.7.2013